Das Schweigen der Gesellschaft
Kriege und Aufrüstung, Diskussionen ums Budget, um die NATO, die Verteidigungsbereitschaft der EU und um die Wieder-Einführung der Wehrpflicht in Deutschland – all das geht teils viral durch sämtliche Medien, insbesondere in jüngster Zeit. Demgegenüber ist die Stimme der einst so starken Friedensbewegung erstaunlich leise geworden. Sind die weißen Tauben müde, wie es mal in einem Lied hieß? Und wenn ja: Woran liegt das?
Von Pantelis Carelos
In den 1980er-Jahren war die Friedensbewegung in Deutschland eine machtvolle gesellschaftliche Kraft. Hunderttausende Menschen gingen auf die Straße, um gegen atomare Aufrüstung und für eine friedlichere Welt zu demonstrieren. Die Bilder der Demonstration im Bonner Hofgarten 1981, bei der rund 300.000 Menschen gegen den NATO-Doppelbeschluss protestierten, sind bis heute Symbol für zivilgesellschaftliches Engagement in Zeiten globaler Bedrohung. Heute, in einer Welt, die erneut von Kriegen, nuklearen Drohungen und geopolitischen Spannungen geprägt ist, bleibt eine vergleichbare Protestwelle weitgehend aus. Warum ist das so? Und wie kann eine neue Friedensperspektive wieder Gehör finden?
Im Folgenden wird diesen Fragen nachgegangen. Es werden die Gründe für das gesellschaftliche Schweigen angesichts aktueller Kriege analysiert und gefragt, wie eine Friedensbewegung im 21. Jahrhundert wieder an Relevanz gewinnen kann.
Viele Menschen erleben den Krieg – etwa in der Ukraine oder im Nahen Osten – als etwas, das zwar medial präsent, aber räumlich und emotional weit entfernt ist. Die Bilder von Zerstörung und Leid erzeugen Betroffenheit, aber auch Ohnmacht. Diese Ohnmacht führt nicht selten zu Resignation statt zu Protest. Wenn politische Entwicklungen als unkontrollierbar erscheinen, sinkt die Motivation, sich aktiv einzubringen.
Zudem hat sich das Sicherheitsgefühl vieler Menschen verändert. Während im Kalten Krieg die Bedrohung durch einen Atomkrieg als unmittelbar empfunden wurde, erscheint die Gefahr heute diffuser. Die Angst ist zwar da – wie die Shell-Jugendstudie 2024 zeigt, in der 81 Prozent der jungen Menschen Angst vor einem Krieg in Europa äußern –, doch sie führt nicht automatisch zu kollektiver Mobilisierung.
Die moralische Eindeutigkeit früherer Proteste – etwa gegen Atomwaffen oder den Vietnamkrieg – ist heute schwerer herzustellen. Der russische Angriff auf die Ukraine wird von vielen als eklatanter Bruch des Völkerrechts wahrgenommen. Solidarität mit der Ukraine erscheint selbstverständlich. Wer dennoch für Frieden demonstriert, läuft Gefahr, als „naiv“ oder gar „pro-russisch“ abgestempelt zu werden. Jeder, der die israelische Politik gegenüber den Palästinensern kritisiert und für Verhandlungen oder Frieden plädiert, wird gleich und ohne Diskussion als „Antisemit“ beschimpft.
Diese Polarisierung erschwert eine differenzierte Debatte. Die Gleichung „Friedensprotest = Unterstützung für den Aggressor“ verhindert, dass sich Menschen öffentlich äußern. Die Folge ist eine Sprachlosigkeit, die nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Unsicherheit resultiert.
In der öffentlichen Debatte dominiert ein sicherheitspolitischer Diskurs, der Aufrüstung und NATO-Stärkung als alternativlos darstellt. Wer diese Linie infrage stellt, wird schnell als „unsolidarisch“ oder „realitätsfern“ oder gar als „Putinfreund“ gebrandmarkt. Friedenspolitische Stimmen haben es schwer, Gehör zu finden – nicht zuletzt, weil auch große Teile der parlamentarischen Opposition die militärische Unterstützung für die Ukraine mittragen. Diese Diskursverengung führt dazu, dass friedenspolitische Alternativen kaum sichtbar sind. Es fehlt an prominenten Stimmen, die glaubwürdig für Diplomatie, Deeskalation und zivile Konfliktlösung eintreten.
Die Friedensbewegung der 1980er-Jahre war stark vernetzt. Gewerkschaften, Kirchen, Umweltverbände und Jugendorganisationen zogen an einem Strang. Heute sind diese Bündnisse weitgehend zerfallen. Die Zivilgesellschaft ist fragmentierter, die klassischen Träger sozialer Bewegungen haben an Einfluss verloren.
Zudem hat sich das Protestverhalten verändert. Viele Menschen äußern sich lieber online als auf der Straße. Soziale Medien ermöglichen zwar individuelle Meinungsäußerung, ersetzen aber nicht die Wirkung kollektiver Präsenz im öffentlichen Raum. Die Folge: Protest wird unsichtbar.
Inflation, steigende Energiepreise und die Angst vor sozialem Abstieg binden die Aufmerksamkeit vieler Menschen. Die Sorge um die eigene Existenz erscheint drängender als die abstrakte Bedrohung eines großen Krieges. Dadurch verschiebt sich das Protestpotenzial in Richtung innenpolitischer Themen – etwa gegen soziale Ungleichheit oder Klimawandel.
Diese Prioritätenverschiebung ist nachvollziehbar, aber sie führt dazu, dass friedenspolitische Fragen in den Hintergrund treten. Die Gefahr: Wenn Kriege als „normal“ akzeptiert werden, sinkt die Bereitschaft, sich dagegen zu engagieren. Trotz aller Herausforderungen gibt es Wege, wie eine Friedensperspektive wieder Gehör finden kann. Voraussetzung ist, dass die Bewegung sich neu positioniert – empathisch, differenziert und anschlussfähig.
Die Freimaurerei ist keine politische Bewegung, doch sie ist zutiefst ethisch. Frieden ist kein bloßer Zustand der Waffenruhe, sondern ein Ideal, das auf innerer Harmonie, gegenseitigem Respekt und dem Streben nach Wahrheit basiert. In den freimaurerischen Ritualen und Symbolen – etwa dem Winkelmaß und dem Zirkel – spiegelt sich die Idee wider, dass der Mensch sich selbst „bearbeiten“ muss, um zu einem Baustein einer friedlichen Gesellschaft zu werden. Für Freimaurer ist Frieden nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg: Dialog statt Dogma, Empathie statt Egoismus, Erkenntnis statt Rechthaberei. Diese Haltung steht im Kontrast zu vielen aktuellen gesellschaftlichen Dynamiken. Die Freimaurerei, mit ihren Wurzeln in der Aufklärung, bietet interessante Ansatzpunkte. Ihre Grundprinzipien – Toleranz, Humanität und die Arbeit am „rohen Stein“ der eigenen Persönlichkeit – korrespondieren mit friedenspolitischen Zielen.
Der Tempel der Humanität: Das freimaurerische Ideal vom „Tempel der Humanität“ verkörpert eine Vision universeller Brüderlichkeit über nationale und religiöse Grenzen hinweg. Diese Metapher des gemeinsamen Bauens kann als Modell für konstruktive Friedensarbeit dienen.
Bearbeitung des rohen Steins: Die maurerische Tradition der graduellen persönlichen Entwicklung erinnert daran, dass nachhaltiger Frieden bei der inneren Transformation beginnt. Dieser Ansatz könnte helfen, Friedensarbeit weniger als abstraktes politisches Projekt und mehr als persönlichen Entwicklungsweg zu verstehen.
Arbeit am Selbst: Frieden beginnt im Inneren, sodass der äußere Frieden nur möglich ist, wenn der Mensch innerlich zur Ruhe kommt. In einer Zeit der Reizüberflutung und permanenten Erregung wäre ein erster Schritt zur Erneuerung der Friedensbewegung die Rückbesinnung auf Achtsamkeit, Selbstreflexion und persönliche Integrität. Wer Frieden fordert, muss ihn auch verkörpern.
Brücken bauen statt Mauern errichten: Freimaurer verstehen sich als Brückenbauer zwischen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen. Die Friedensbewegung könnte an Einfluss gewinnen, wenn sie sich stärker als Plattform für Dialog versteht – nicht nur zwischen Staaten, sondern auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen, die sich entfremdet haben.
Rituale und Symbole als Kraftquellen: Rituale strukturieren Zeit, geben Halt und schaffen Gemeinschaft. Die Friedensbewegung könnte von der freimaurerischen Praxis lernen, wie Symbole und Rituale genutzt werden können, um kollektive Identität und spirituelle Tiefe zu erzeugen. Eine „Kultur des Friedens“ braucht mehr als politische Forderungen – sie braucht auch emotionale Resonanz.
Bildung als Friedensarbeit: Freimaurer setzen auf Bildung als Mittel zur Selbstvervollkommnung. Eine Friedensbewegung, die sich auf Aufklärung, kritisches Denken und historische Reflexion stützt, kann langfristig wirksamer sein als bloße Proteste. Frieden ist kein Zustand, sondern ein Bildungsprozess.
Die Welt hat sich verändert – und mit ihr die Bedingungen für sozialen Protest. Eine neue Friedensbewegung muss diese Veränderungen ernst nehmen und sich entsprechend aufstellen.
Digital UND analog denken: Die digitale Welt bietet Chancen: für Vernetzung, Mobilisierung und Aufklärung. Doch sie darf nicht zum Ersatz für reale Begegnungen werden. Eine erfolgreiche Friedensbewegung nutzt beide Ebenen – online für Reichweite, offline für Wirkung.
Global denken, lokal handeln: Kriege sind global – ihre Ursachen und Folgen betreffen uns alle. Eine neue Friedensbewegung sollte daher international vernetzt sein, aber auch lokal verankert. Friedensarbeit beginnt im Kleinen: in der Kommune, im Stadtteil, in der Schule.
Empathie und Realismus verbinden: Friedenspolitik darf nicht naiv sein – aber auch nicht zynisch. Sie braucht Empathie für die Opfer von Gewalt und Realismus in der Analyse geopolitischer Machtverhältnisse. Nur wer beides verbindet, kann glaubwürdig für eine andere Welt eintreten.
Das Schweigen der Gesellschaft angesichts globaler Kriege ist kein Zeichen von Gleichgültigkeit – sondern Ausdruck von Unsicherheit, Fragmentierung und Ohnmacht. Doch diese Sprachlosigkeit ist nicht alternativlos. Eine neue Friedensbewegung kann entstehen, wenn sie sich den Herausforderungen unserer Zeit stellt.
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